"Das hätte ich dir ja gar nicht zugetraut!"

Wed, 24 Feb 2021 12:58:57 +0000 von Julia Kettler

© Kettler
 Wie hören Sie den Satz? Anerkennend oder mit einem Augenrollen? Vorwurfsvoll? Auf jeden Fall zeigt er an, dass man offenbar anders ist, als jemand dachte. In dieser Fastenwoche geht es um die Rollen, die wir spielen oder die uns zugeschrieben werden. Aber sind wir nicht viel mehr als das? „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu“ lautet ein bekanntes Motto für die Fastenzeit. Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken. Wer bin ich? Welche Rollen schreiben mir die Menschen in meinem Umfeld zu? Und welche würde ich gern mal einnehmen? Vielleicht sollte ich es einfach mal ausprobieren.
Jeremia hat einen Auftrag bekommen, den nicht nur die Menschen um ihn herum ihm nicht zugetraut hätten, sondern von dem er selbst dachte: das ist jetzt eine Nummer zu groß. Ihm ist Folgendes passiert: 
Da kam das Wort des Herrn zu mir: »Bevor ich dich im Mutterleib geformt habe, kannte ich dich. Bevor du von deiner Mutter geboren wurdest, warst du schon heilig für mich. Zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.« Ich antwortete: »Ach, mein Gott und Herr, ich kann nicht gut reden! Denn ich bin noch zu jung.« Doch der Herr erwiderte: »Sag nicht, dass du zu jung bist, sondern geh, wohin ich dich sende! Und verkünde alles, was ich dir auftrage!Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin mit dir und werde dich retten!«
Gott sieht uns mit ganz anderen Augen als die Menschen um uns herum. Er sieht vielleicht auch Dinge, die wir selbst noch nicht wahrgenommen haben. Manchmal fordert er uns heraus. 
Fürchte dich nicht, auch mal aus der Rolle zu fallen, auf der Suche nach dem oder der, der oder die du wirklich bist. 
 
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
 ich träte aus meiner Zelle
 gelassen und heiter und fest,
 wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
 Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
 ich spräche mit meinen Bewachern
 frei und freundlich und klar,
 als hätte ich zu gebieten.
 
 Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
 ich trüge die Tage des Unglücks
 gleichmütig lächelnd und stolz,
 wie einer, der Siegen gewohnt ist.
 
 Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
 Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
 Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
 ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
 hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
 dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
 zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
 umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
 ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
 müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
 matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
 
 Wer bin ich? Der oder jener?
 Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
 Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
 Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
 Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
 das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
 
 Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
 Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
 
 (aus: Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung)
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